Was ist denn nun dran an unseren geliebten Geschichten über das Gänseliesel, Bismarcks Verfehlungen und ihre Folgen oder die Konkurrenz zwischen Celle und Göttingen, wenn es um die Universitätsgründung geht. Danach haben wir Ernst Böhme, den langjährigen Leiter des Stadtarchivs und des Städtischen Museums, gefragt.
Anekdoten über Göttingen
Darum überdauern manche Anekdoten so lange
Bevor wir einzelne Geschichten unter die Lupe nehmen, überlegt Ernst Böhme, warum manche Anekdoten, obwohl sie nicht wahr sind, so lange überdauern. Seine Erklärung ist ebenso einfach wie einleuchtend: Der Reiz dieser Geschichten ist, für den Erzählenden und den Zuhörenden, dass sie etwas ganz Spezielles zusätzlich zum eigentlichen Sachverhalt enthalten. Dieses „Add-on“ macht das Erzählte lebendig und spannend und sorgt dafür, dass wir uns noch lange daran erinnern. Wir sind uns schnell einig: Die Magie, die diesen Anekdoten innewohnt, wollen wir nicht zerstören, sondern ihnen nur ein bisschen mehr Wahrheitsgehalt geben.

Im Paulinerkloster gab es ein Pädagogium, in dem schon universitäre Fächer gelehrt wurden.
Foto: Göttingen Tourismus & Marketing / Mischke
Darum kam die Universität nach Göttingen
Seitdem es die Universität in Göttingen gibt, spielt sie eine entscheidende Rolle im Stadtgeschehen. Gerne wird erzählt, dass ihre Gründung Folge einer Konkurrenzsituation zwischen Celle und Göttingen war. Demnach suchte Kurfürst Georg August von Hannover, König Georg II. von England, sowohl einen Standort für eine Universität als auch für ein Gefängnis.
Die Celler Bürgerschaft, so die Legende, habe sich für das Zuchthaus entschieden, weil vonseiten der eingesperrten Gefangenen weniger Gefahr für die Töchter der Stadt ausgegangen sei als von den „freilaufenden“ Studenten.
Das Pädagogium in Göttingen
Das ist so nicht richtig, weiß Ernst Böhme zu berichten. In Göttingen gab es zur damaligen Zeit bereits ein renommiertes Pädagogium im ehemaligen Paulinerkloster.
Es diente zur Vorbereitung auf das Universitätsstudium. Entsprechend wurden dort bereits universitäre Fächer gelehrt. Da lag es nahe, die bereits vorhandene Infrastruktur auszubauen und für die neue Universität zu nutzen. Die Göttinger Bevölkerung hat, entgegen allen anderslautenden Erzählungen, die Universitätsgründung von Anfang an begrüßt, da schnell klar war, dass die Universität wirtschaftlichen Benefit in die Stadt bringen würde.
Bismarcks wilde Studienzeit
Karzeraufenthalte und Verbannung
Vom Sommersemester 1832 bis zum Sommersemester 1833 war der spätere Reichskanzler Otto von Bismarck an der Georgia Augusta eingeschrieben. In dieser Zeit führte er ein eher wildes Studentenleben, geriet mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt und kassierte einige Strafen wegen Störung der öffentlichen Ordnung.

Das Bismarckhäuschen in Göttingen.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Daamen
Bismarck als Student in Göttingen (Miniatur von Philipp Petri, 1833)
Die Legende besagt, dass Bismarck schließlich aus der Stadt verbannt wurde und in einen ehemaligen Wehrturm des Göttinger Stadtwalls einziehen musste, wo er sich ohne Ablenkungen seinen Studien widmen sollte.
Die Realität ist weniger dramatisch. Bismarck hat, so Ernst Böhme, zunächst in der Roten Straße 27 gewohnt, bevor er zum Sommersemester 1833 in das heute nach ihm benannte Bismarck-Häuschen zog.
Dieser Umzug war allerdings keine Verbannung aus der Stadt. Vielmehr wurde der alte Wehrturm im Zuge der Umgestaltung des Walls zur Promenade 1734 in ein Gartenhaus umfunktioniert und an Studenten, schließlich auch an den späteren Reichskanzler vermietet.
Der Karzer wurde erst nach Bismarcks Aufenthalt in Betrieb genommen.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Mischke
Als Student unterlag Bismarck sowohl in der Roten Straße wie im Bismarck-Häuschen der Rechtsprechung der Universität. Das ausschweifende Studentenleben bescherte ihm mehrere Verurteilungen und zwei Aufenthalte im Karzer, dem Universitätsgefängnis.
Verbrachte Strafe nicht im Karzer
Allerdings verbrachte er seine Strafe nicht, wie häufig angenommen, in dem Karzer, der im Aulagebäude untergebracht und im Rahmen von Stadtführungen besichtigt werden kann. Dieser wurde erst 1837, also nach Bismarcks Aufenthalt in Göttingen, in Betrieb genommen.
Vielmehr saß er in dessen Vorgänger im Concilienhaus in der Prinzenstraße 1 ein. Ein Relikt aus dieser Zeit ist die Original-Inschrift auf einer alten Karzertür, die im Bismarck-Häuschen ausgestellt ist. Sie zeigt neben dem Namen v. Bismarck die Buchstaben seines Corps und die Anzahl der Tage, die er im Karzer eingesessen hat.
Die erste Nachricht auf dem Gauß-Weber-Telegrafen
“Michelmann kömmt”
Eine besonders schöne Geschichte, findet Ernst Böhme, ist die von „Michelmann kömmt“. 1833 nahmen die beiden Gelehrten Carl Friedrich Gauß und Wilhelm Eduard Weber den ersten elektromagnetischen Telegrafen in Betrieb, der von der Historischen Sternwarte, der Wirkungsstätte Gauß‘ in der Geismar Landstraße, über das Accouchierhaus und die Johanniskirche zum Physikalischen Kabinett im Papendiek, dem Arbeitsplatz von Weber, führte.

Ernst Böhme nutzt die Bronze-Stele zum Gauß-Weber-Telegrafen im Innenhof der Paulinerkirche.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Mischke
„Das mit Kupferdraht umwickelte Seil kann heute als Keimzelle der digitalen Datenverarbeitung angesehen werden“, sagt Ernst Böhme mit sichtlichem Stolz. Dass es diese Telegrafenkonstruktion gab, ist zweifelsfrei nachgewiesen, allerdings war die erste Botschaft, die über sie gesendet wurde, nicht: “Michelmann kömmt”, wie häufig erzählt wird.
Michelmann war der Hausmeister
Wilhelm Michelmann, der Hausmeister bei Weber war, trat erst 1848 seinen Dienst an, die erste Nachricht wurde bereits 15 Jahre früher gesendet. Welche Worte tatsächlich als erste über die Leitung geschickt wurden, ist leider nicht überliefert.
Kussverbot am Göttinger Gänseliesel
Erlass besteht noch heute
Das Göttinger Gänseliesel gilt als meistgeküsstes Mädchen der Welt. 1901 ohne viel Brimborium aufgestellt, schlossen es die Studenten alsbald in ihre Herzen. Schnell wurde es Brauch, dass alle neu immatrikulierten Studenten der Bronzefigur einen Besuch abstatteten, auf den Brunnen stiegen und das Gänseliesel küssten.

Das Kussverbot zum Göttinger Gänseliesel besteht noch heute.
Foto: Göttingen Tourismus und Marketing / Mischke
Das feucht-fröhliche Ritual hatte häufig erheblichen Lärm und gelegentliche Beschädigungen des Brunnens zur Folge. Dies (und nicht den angeblichen Verfall der Sitten) versuchte die Obrigkeit zu unterbinden, indem sie 1926 das sogenannte Kussverbot erlies und das Küssen unter Strafe stellte. Auch Georg Graf Henckel von Donnersmarck wurde nach einem verbotenen Kuss zu einer Geldstrafe verurteilt. Als ambitionierter Jurastudent focht er die Rechtmäßigkeit der Polizeiverordnung an und ging bis vor das Berliner Kammergericht, dem höchsten Gericht Preußens, vergleichbar dem heutigen Bundesgerichtshof. Es nützte nichts, das Kussverbot blieb bestehen.
Kussverbot scheinbar aufgehoben
2001 wurde der 100ste Geburtstag des Gänseliesels mit vielen kleinen und großen Aktionen gefeiert. Unter anderem wurde eine Ratssitzung inszeniert, in der das Kussverbot scheinbar für 100 Minuten aufgehoben wurde, sodass viele Göttinger*innen, ob Studierende oder nicht, die Gelegenheit ergriffen, das Gänseliesel zu küssen. Rechtlich war diese „Fake“-Sitzung ohne Belang: Das Kussverbot besteht formal bis heute, wird aber selbstverständlich nicht mehr durchgesetzt.